Wenigstens erwarte ich Redlichkeit

(English version)

Offener Brief an MdB Helge Lindh, vormals Integrationsausschussvorsitzender in Wuppertal, zur Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. (Von Judith Welkmann)

Sehr geehrter Helge Lindh,

ich wende mich an Sie – nicht als SPDler, da ich über die SPD eigentlich nicht mehr negativ überraschbar bin. Ich schreibe Sie als einen Wuppertaler an, der, wie ich auch, engagiert ist in der Flüchtlingsarbeit und der intensiven Kontakt zu vielen Menschen hält, die von den Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre unmittelbar negativ betroffen sind.

Nun also die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Mit den Stimmen der SPD, weniger 10 MdB. Unter den zehn, die dagegen stimmten, waren Sie nicht.

In Ihrer „Persönliche Erklärung zur namentlichen Abstimmung“ schreiben Sie, dass Sie sich jetzt gerade, heute Nachmittag, während ich diese Zeilen schreibe, mit einer syrischen Familie treffen werden, die subsidiären Schutz bekommen hat und die derzeit um ihren Sohn, der in Syrien zurückgeblieben ist, bangt. Vermutlich zu Recht schrieben Sie weiter, dass diese Familie sich nicht besonders für die Feinheiten der Gesetzgebungsverfahren interessiert.

Der Redlichkeit halber sollten Sie aber vielleicht, wenn Sie Ihr Abstimmungsverhalten gegenüber der Familie zu rechtfertigen versuchen, folgende Aspekte nicht unterschlagen:

1. Hätte es gar keine Gesetzesänderung gegeben, so wäre die Aussetzung des Familiennachzugs so, wie ursprünglich beschlossen, zum 16.03. diesen Jahres ausgelaufen. Die syrische Familie hätte so, wie zigtausend andere, einen Rechtsanspruch gehabt, ihren Sohn nachholen zu können. Hätte die SPD dem Gesetzentwurf der Union ihre Zustimmung versagt, so hätten CDU und CSU sich dafür andere Mehrheiten suchen müssen. Sie sagen, dass dann ein Gesetzentwurf gemeinsam mit AfD und FDP zustande gekommen wäre. Ich meine, dass man es durchaus darauf hätte ankommen lassen können: Zum einen hätte sich die Union dann überlegen müssen, ob sie wirklich ihren ersten Gesetzentwurf der Legislaturperiode mit der Rechtsaußenpartei durch den Bundestag bringen will. Und auch die AfD hätte sich ihrerseits gewiss schwergetan, nach nur vier Monaten im Bundestag mit der verhassten Merkel-Partei zu stimmen. Und dann hätte es ja immer noch nicht für eine Mehrheit gereicht, sondern sie hätten die FDP mit an Bord holen müssen…. Nun ja, und selbst wenn, so wären damit zumindest mal die Fronten klar gewesen.

2. Die anvisierte Kontingentregelung von maximal 1.000 Visa pro Monat ändert so, wie der Gesetzentwurf formuliert ist, auch ab August 2018 erst einmal überhaupt nichts am gegenwärtigen Katastrophenzustand; im Gegenteil: Der Rechtsanspruch auf Familiennachzug wird für subsidiär Geschützte explizit und endgültig ausgesetzt. An Stelle dieses Rechtsanspruchs tritt eine Kann-Regelung: „Ab 1. August 2018 kann aus humanitären Gründen dem Ehegatten oder dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, dem eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt wurde, sowie den Eltern eines minderjährigen Ausländers, dem eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz zweite Alternative erteilt wurde, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, bis die Anzahl der nach dieser Vorschrift erteilten Aufenthaltserlaubnisse die Höhe von monatlich 1 000 erreicht hat.“

Es gibt also eine Ober-, aber keine Untergrenze. Diese Kann-Formulierung ist übrigens dieselbe, die auch dem humanitären Paragraphen 22 Aufenthaltsgesetz zugrunde liegt. Und dieser hat bekanntlich im Jahr 2017 ganze 66 Nachzüge (bis 4.12.2017) ermöglicht.

Die CDU hat die SPD bei der Debatte um die Aussetzung des Familiennachzugs schon einmal verschaukelt, indem auf die geringe Zahl subsidiär Schutzberechtigter verwiesen hat, um dann im Anschluss die Anerkennungspraxis so zu ändern, dass jetzt Zehntausende betroffen sind. Dass sich die SPD ein weiteres Mal bereitwillig verschaukeln lässt, ist die eine Sache – aber es macht mich wütend, wenn Sie allen Ernstes den Betroffenen eine solche Widerlichkeit in Gesetzesform als bestmöglichen Kompromiss verkaufen. Die rein hypothetische „Möglichkeit für 1000 Menschen pro Monat, wieder bei den Liebsten sein zu können“, hilft in Wirklichkeit keiner Familie. Nicht einmal in 60 Monaten, weil es nämlich selbst für diese Tausend eine rein hypothetische Möglichkeit bleiben wird. Und das wissen Sie, das können und das müssen Sie wissen, da Sie sich mit der Thematik nicht erst seit Ihrer Wahl in den Bundestag befassen. Es wird darauf hinauslaufen, die Familie, mit der Sie befreundet sind, in Konkurrenz zu Tausenden anderen zu stellen, die genauso verzweifelt versuchen werden darzulegen, dass ihre Familientrennung nun eine ganz besonders außergewöhnliche Härte darstellt – und deshalb bevorzugt behandelt werden müsse, gegenüber anderen Anträgen, die zurückgestellt werden.

Ich bezweifele zudem sehr, dass dies ab August viel mehr Menschen über den Familiennachzug gelingen wird, als es bisher über den §22 gelang. Es gibt jedenfalls keinen vernünftigen Grund dafür, das anzunehmen.

3. Dass dieses Gesetz damit internationalem und europäischem Recht sowie der Kinderrechtskonvention diametral widerspricht, steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Die SPD hat am Donnerstag einem Gesetz zugestimmt, das weder mit dem dem Schutz der Familie im Artikel 8 der EMRK, noch mit dem Artikel 6 des Grundgesetzes, noch mit dem Art. 10 Abs. 1 der Kinderrechtskonvention in Übereinklang zu bringen ist. Das haben (nicht nur bei der überstürzt angesetzten Sachverständigenanhörung am vergangenen Montag) die ExpertInnen von Kirche und Menschenrechtsorganisationen deutlich gemacht. Sie waren dabei, sie kennen die Debatte und die Position bspw. des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Wie können Sie deren Argumente einfach in den Wind schlagen?! Wieso ist Ihre (auch noch irregeführte) „Verantwortungsethik“ (die hier nur scheinbar `noch Schlimmeres´, also eine Abstimmung von CDU/CSU mit AfD und FDP, verhindern will) so übermächtig geworden, dass sie jegliche Prinzipien (Gesinnungsethik) in den Wind schlägt? Wo ist die Grenzlinie zwischen dieser Form von „Verantwortungsethik“ und schöngeredetem Opportunismus?

Es wird nicht der einzige und letzte Angriff auf Flüchtlingsrechte sein, die wir in dieser Legislaturperiode erwarten müssen. Die AfD regiert längst mit und diktiert der Union die Linie, die die SPD dann abnicken wird, sei es aus Überzeugung, um des Koalitionsfriedens willen oder um „Schlimmeres“ (eine offene Koalition der migrationsfeindlichen rechten Fraktionen) zu verhindern. Oder um Neuwahlen zu verhindern und damit vorzeitige Erkenntnis, dass die SPD mit ihrer jetzigen Performance für die meisten ihrer StammwählerInnen keine wählbare Partei mehr ist. Fragt sich, was und wie sich etwas ändern soll bis 2021….

Der nächste Angriff auf bundesdeutscher Ebene, in seinen Folge für den Flüchtlingsschutz vielleicht noch viel verheerender als der blockierte Familiennachzug, wird in der flächendeckenden Einführung von neuerdings sogenannten ANkER-Einrichtungen bestehen. ANkER steht für Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen, also Abschiebelager nach bayrischem Vorbild (derzeit Manching und Bamberg). Auch in NRW haben wir bereits seit Ende 2015 solche „Schwerpunktzentren“, wo Menschen de facto von Rechtsschutz, vom Spracherwerb, vom Kontakt mit Beratungseinrichtungen und praktisch von jedem Zugang zur Mehrheitsgesellschaft isoliert gehalten werden sollen, bis zur Abschiebung oder zur Anerkennung.

Das, worauf Sie und viele andere zu Recht stolz sind – ein gelungenes Zusammenkommen und Zusammen Gestalten von gemeinsamen Leben in unserer Stadt, von Neu Zugewanderten, Geflüchteten, MigrantInnen und Alteingesessenen, wird damit für alle neu Ankommenden nicht mehr möglich sein. Und zwar gilt das dann nicht mehr „nur“ für Menschen aus den sog. „sicheren Herkunfsländern“: Auch AfghanInnen, IranerInnen, NigerianerInnen, SyrerInnen…. sie alle werden über Monate, vielleicht Jahre hinweg in landesbetriebenen Flüchtlingslagern feststecken, wo sie der Residenzpflicht unterliegen, Gutscheine statt Bargeld bekommen (womit sie weder ein Busticket noch eine Rechtsanwältin bezahlen können). Sie werden kaum Zugang zu Informationen und keinen Zugang zu Rechtsschutz bekommen. Die Kinder werden nicht in die Schule gehen können, für viele Monate oder gar Jahre. Es darf nicht verwundern, dass sich in diesen Lagern Gewalt und Suizidversuche häufen. Aus den Augen, aus dem Sinn, ist das dieser Entscheidung zugrundeliegende Prinzip. Es ist dasselbe, das gerade das Sterbenlassen im Mittelmeer zum Normalzustand werden lässt.

Die SPD hat der Einrichtung solcher Lager im Sondierungspapier bereits zugestimmt. Genauso wie der Einstufung autoritärer und menschenrechtlich massiv prekärer Staaten wie Marokko, Algerien und Tunesien als „sichere Herkunftsländer“. Wider besseren Wissens; immerhin findet sogar das BAMF, dass diese Länder für viele Menschen absolut nicht sicher sind, und erteilt zwischen 6,3 (% Algerien) und 10,6 % (Marokko) aller AntragstellerInnen einen Schutzstatus.

Die SPD hat sich noch nie besonders damit hervorgetan, für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen zu streiten und dafür möglicherweise sogar Konfrontationen und Kontroversen (einschließlich bei der eigenen Basis) in Kauf zu nehmen und auszuhalten. Und gewiss ist das Asylrecht kein Thema, mit dem man die SPD-Basis auf die Barrikaden lockt.

Aber die Redlichkeit, solch würdelosen Entscheidungen, solchen Opportunismus nicht auch noch schönzureden, sondern stehen zu lassen als die knallharte Realpolitik, die sie nunmal ist – die erwarte ich eigentlich schon. Nicht von einem SPDler, aber von einem Wuppertaler, der sich seit Jahren intensiv in der Begleitung von Geflüchteten engagiert.

 

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