Während des No Border Camps in Thessaloniki wurden verschiedene Lager besucht, in denen die griechische Regierung Geflüchtete untergebracht hat, auch Menschen, die zuvor im Grenzcamp Idomeni gelebt haben. Den Besuch des Lagers Oreokastro am 19.Juli hat Judith mitgemacht. Ein Besuchsbericht.
Dicht an dicht stehen die Zelte in der gigantischen Fabrikhalle. Lindgrün sind sie und in ordentlichen Reihen aneinandergereiht; auf den Gängen dazwischen spielen die Kinder, einige Männer haben kleine, improvisierte Kioskstände aufgebaut, wo sie Tee, Zigaretten und kleine Snacks anbieten. Die informelle Ökonomie hat sich inzwischen etabliert, ebenso die zahlreichen NGOs, die mittlerweile von überall her ihre MitarbeiterInnen eingeflogen haben: Das Essen wird in Plastiktüten ausgegeben, auf denen „Caritas Greece“ steht. Die Gesundheitsstation wird von Medicins de Mondes betrieben. Und auf dem ganzen Gelände laufen meistens junge Frauen mit farbigen Westen herum, auf denen „Norwegian Refugee“ steht oder „Acts of Mercy“.
Ich frage einen der Sozialarbeiter, ob er einen Überblick hat, wie viele Leute derzeit hier leben – er winkt ab, das wisse wahrscheinlich niemand ganz genau. Von der Anzahl der Zelte ausgehend, von denen etwa 70 weitere außerhalb der Halle in der prallen Sonne stehen, müssen es sicher an die 1.500 Menschen sein, die hier seit der Räumung von Idomeni und anderen „wilden“ Camps zusammengepfercht sind. Das Lager liegt etwa zehn Kilometer nördlich von Thessaloniki; um hierherzukommen, mussten wir mit dem Bus gut 20 Minuten aus der Stadt raus und dann durch eine Mischung aus Gewerbegebiet und landwirtschaftlicher Gegend fahren.
Auch das Camp selbst ist auf dem Gelände einer alten Fabrik errichtet worden, die im Zuge der Wirtschaftskrise schließen musste. Betrieben wird das Camp vom griechischen Militär, das den Zugang und das Stahltor am Eingang bewacht, uns aber problemlos passieren lässt. Wie uns ein Campbewohner erzählt, übernimmt das Militär hier aber auch den Security-Dienst; das heißt, Uniformierte betreten auch die Halle selbst, wenn es bspw. einen Konflikt unter den Bewohnern gibt.
Solange wir zu Besuch sind, halten sich die Uniformierten jedoch am Rand. In der Halle selbst sind nur die bunten Westen der NGOlerInnen zu sehen, fast jede von ihnen hat mindestens ein, oft auch vier Kinder an sich hängen. Überhaupt, es sind unglaublich viele Kinder in dem Lager; das jüngste ist wohl erst vor wenigen Tagen zur Welt gekommen. Als die Delegation die Musikanlage aufbaut, kommt eine ganze Horde von Mädchen angerannt, begeistert über die Abwechslung. Alles, was als Spielzeug dienen kann – die mitgebrachten No Border Camp-Zeitungen, Buntstifte, Bälle, sogar der Hund einer spanischen Genossin – wird euphorisch in Beschlag genommen.
Ich geselle mich zu einer Gruppe Frauen mittleren Alters. Wir können uns, mangels Arabisch- respektive Englischkenntnissen, so gut wie nicht verständigen; trotzdem unterhalten wir uns eine ganze Weile mit Händen und Füßen. Ich erfahre, dass alle drei aus Syrien sind; eine kommt aus Homs, eine aus Hama, die älteste von ihnen ist aus Aleppo. Auf der rudimentären Verständigungsebene von Gesten und Mimik, berichten alle drei von den Bombenangriffen, und dass ihre Häuser zerstört sind. Amina aus Aleppo hat dabei ihre zwei Kinder und ihren Mann verloren. Ich frage sie, ob sie alleine hier im Lager ist, und sie bejaht die Frage. Sie hat niemanden mehr, ihre Familie wurde vom Krieg komplett ausgelöscht.
Ich drücke mein Beileid aus und würde sie gerne fragen, was für Pläne sie hat, ob sie in Griechenland bleiben oder die Weiterreise versuchen möchte. Dann gebe ich es auf, weil die Frage ohne gemeinsame Sprache wohl zu kompliziert ist, aber auch weil ich denke, dass es vielleicht Lebenssituationen gibt, in denen es nicht so sehr um Pläne geht, sondern um das schlichte physische und psychische Überleben. Doch bei aller Traurigkeit und Tragik müssen wir alle vier plötzlich lachen, als einige vorwitzige Kinder den spanischen Hund necken, dann aber Angst vor der eigenen Courage bekommen und kreischend davon laufen.
Ich hatte damit gerechnet, dass wir mit Fragen und Untersützungsbitten überschüttet werden würden, aber dem ist nicht so. Wahrscheinlich sind viele überdrüssig, wieder und wieder Leuten ihre Geschichte zu erzählen, die mit den besten Absichten vorbeikommen, aber ihnen letztlich sowieso nicht helfen können. Tatsächlich wollten die meisten, mit denen ich darüber spreche, eigentlich nach Deutschland weiter. Einige von ihnen haben auch Familie dort und damit in der Theorie sogar das Recht, dass ihr Asylverfahren in Deutschland durchgeführt wird. Aber alle wissen inzwischen auch, wie langsam und unendlich mühselig das Verfahren ist, und dass auch solidarische Menschen aus ganz Europa augenblicklich daran nur wenig ändern können.
Ich spreche einen jungen, griechischen UNHCR Mitarbeiter, erkennbar an seiner blauen Mütze, an. Ich will in Erfahrung bringen, wie denn der Zugang zum griechischen Asylsystem inzwischen funktioniert, und welche Chancen zum Familiennachzug tatsächlich bestehen. Der arme Mann ist reichlich beschäftigt, weil immer wieder Leute mit ihren Papieren und Fragen auf ihn zukommen, und das Gespräch wird mehrfach unterbrochen. Dennoch erfahre ich, dass die griechische Regierung im Augenblick zwar absolute Priorität auf die Vorregistrierung legt, bislang aber immer noch das Skype-Verfahren der einzige Weg ist, um einen Termin zur Antragstellung bei der griechischen Asylbehörde EASO zu bekommen. Das würde zwar allmählich besser funktionieren, sei aber immer noch alles andere als befriedigend.
Er selbst ist im Lager die Ansprechperson für die rechtlichen Fragen, einschließlich solchen zum Familiennachzug in andere europäische Länder. „Aber es fühlt sich manchmal an, wie wenn man jemanden ein Rezept für ein tolles Gericht gibt, aber es gibt weder Mehl noch Eier noch Gemüse noch sonst irgendetwas, um es zuzubereiten.“ Ein Gefühl, das ich sehr gut kenne.
Unterm Strich scheint Oreokastro ein Lager zu sein, dass das physische Überleben, die Grundversorgung gewährleistet, aber keinerlei Zukunft. Es ist, im klassischen Sinne, ein Isolationslager – trotz der Bushaltestelle direkt neben dem Campeingang sind die Leute dort abgeschnitten von ihrer Umgebung, auf sich selbst, auf die Lager-Infrastruktur und die NGO-Leute zurückgeworfen. Außerdem gibt es keine Beschäftigungsmöglichkeiten, keine Chance, die Sprache zu lernen, keine Chance, selbst tätig zu sein, wirklich anzukommen, irgendwie wieder anzuknüpfen an ein Leben, das der Krieg zuvor abrupt abgerissen hat. Es ist ein Lager, das vom Militär bewacht wird und in dem Privatheit genauso wenig Raum hat wie persönlicher Schutz, was vor allem für die vielen Frauen und Mädchen hier die Hölle sein muss. Es ist ein klassisches Isolationslager, weil es Menschen als Schicksalsgemeinschaft zusammensteckt und absolut auf sich selbst zurück wirft. Ein auf Dauer gestellter Transit. Und niemand sagt einem, wie lange dieser Zustand anhalten wird.
Als wir uns nach etwa zwei Stunden verabschieden, stellt sich heraus, dass auch die Bushaltestelle wegen eines Busstreiks zumindest heute nur von wenig Nutzen ist. Dort sitzt aber, wartend und etwas verzweifelt, eine Familie, die dringend zum Bahnhof nach Thessaloniki muss: Sie haben nämlich endlich ihren Anhörungstermin bekommen; nun aber sitzen sie wegen des Streiks hier fest.
Weil unser gecharteter Reisebus schon auf der Hinfahrt ziemlich voll gewesen ist, bin ich zunächst etwas skeptisch, wie unser Fahrer reagiert, wenn wir nun noch eine zehnköpfige Familie mit hineinzwängen. Aber alle schieben sich so gut es geht in den Gängen zusammen, bieten den älteren Herrschaften ihre Sitzplätze an. Und der griechische Busfahrer nimmt es gelassen, – was man von einem griechischen Busfahrer natürlich nicht anders erwarten darf.
Ich begleite die syrische Familie, vier Erwachsene und sechs Kinder, noch bis zum Bahnhof, und sie verabschieden sich ausgesprochen freundlich von mir. Nach der Registrierung bei der Asylbehörde werden sie wieder ins Lager zurück müssen. Und dann geht das Warten für sie weiter, keiner kann sagen wie lang.