Mit dem w2wtal-Frühstück am 20.Dezember liegt unser letztes öffentliches Treffen in diesem Jahr hinter uns. Das nächste Treffen findet dann erst am 9.Januar 2016 statt, bei unserem w2wtal-Abend im Café Stil-Bruch, der wegen Neujahr ausnahmsweise um eine Woche verschoben wird. Die Pause bietet Gelegenheit, kurz innezuhalten und auf 2015 zurück zu schauen. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir an dieser Stelle einen Beitrag unseres Freundes Lobanowskji.
2016 – Yallah! von Lobanowskji
Für alle, die Migrationsbewegungen als ein entscheidendes gesellschaftliches Thema begreifen, war das jetzt zuende gehende Jahr eine irrsinnige Abfolge ambivalenter Entwicklungen im Hochgeschwindigkeitsmodus. Dass die Thematik zum Ende des Jahres auf fast allen Feldern zentral geworden ist, während sie zu Beginn eher noch ein Thema antirassistischer und asylpolitischer Gruppen war, gehört zu diesen Entwicklungen.
Mittlerweile bestimmt sie die politische Agenda in fast allen Fragen – selbst die Einigung beim «Klimagipfel» in Paris war von der Thematik zukünftiger Migrationsdynamik geprägt. Zwischen dem «Sommer der Migration» mit einer unter Druck geratenen «Festung Europa», einem durch massenhaft überwundene Grenzen geschredderten «Dublin»-Abschiebesystem samt einer kollabierenden Ordnungspolitik und dem inzwischen folgenden «Winter der Reaktion» mit üblen Gesetzesverschärfungen und Außerkraftsetzen von Grundrechten schlugen die Pendel der Ereignisse aus. Erfreuliche Infos und bestürzende Nachrichten wechselten sich manchmal im Verlauf eines einzigen Tages ab. Gesetze, die sonst monatelang abgestimmt werden mussten, wurden teilweise in Wochenfrist verschärft.
Dennoch ist es der Allianz aus rassistischem Mob und Politik bisher noch nicht gelungen, maßgeblich in die Entwicklungen einzugreifen – auch wenn manche Initiativen in den letzten Wochen begonnen haben, Wirkung zu zeigen. Darunter leiden vor allem einzelne und isolierte migrantische Gruppen wie die Roma, die die Wucht der Gesetzesverschärfung mit voller Härte zu spüren bekommen. Sie werden von der Öffentlichkeit fast unbemerkt in großer Zahl abgeschoben – oft, nachdem sie Jahre oder Jahrzehnte mit uns lebten. Und jene, die bis heute noch nicht abgeschoben wurden, werden teilweise über Nacht aufgefordert, die bisherige Wohnung aufzugeben und in spezielle Lager umzusiedeln – zu denen dann beispielsweise die bayrische Landesregierung stolz verkündet, es habe dort «noch keinen einzigen Fall» eines positiven Asylbescheides gegeben.
Die verzweifelt anmutenden Versuche der deutschen Regierung und der EU-Administration, das Heft des migrationspolitischen Handelns wieder in die Hand zu bekommen, erzeugen jedoch auch Opfer an ganz anderer Stelle. In ihrem panischen Bemühen, die Bewegung der Migration nach Europa einzudämmen, war die Europäische Union offenbar auch bereit, die Kurd*innen zu opfern. Ganz offensichtlich als Teil eines «Deals» zwischen EU und AKP-Regierung kann das türkischen Miltär im kurdischen Teil der Türkei einen zunehmend offenen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führen. Aus Europa ist dazu nur ohrenbetäubendes Schweigen zu vernehmen. Dafür, dass syrische Flüchtende nun in türkische Haftlager eingesperrt und teils auch in den Krieg zurückgeschickt werden, wird über Panzer und Bomben in kurdischen Großstädten und über zivile Tote komplizenhaft hinweggesehen. Selten war die erbärmliche Heuchelei der EU so offensichtlich.
Trotzdem sind das bislang nur Zwischenergebnisse. Wohin das Pendel des europäischen Umgangs mit der Bewegung der Migration am Ende ausschlägt, ist nach wie vor nicht ausgemacht. Denn obwohl ein wütend-rassistischer Mob die Politik vor sich hertreibt, sind die wahren Akteure der Veränderungen noch immer die Flüchtenden selber. Ihr selbstorganisierter Weg aus Krieg und Perspektivlosigkeit und ihr Erscheinen in den europäischen Wohlfühl- und Sicherheitszonen ließ viele Selbstgewissheiten einstürzen, es stellte Privilegien infrage und störte die «Puppenheim-Atmosphäre der Verdrängung», wie Elisatbeth Raether es in der «ZEIT» formulierte.
Wohin die Entwicklung nächstes Jahr gehen wird, hängt nicht zuletzt auch von uns – flüchtlingspolitischen Gruppen und antirassistischen Aktivist*innen – ab. Kann es uns gelingen, die Dynamik der Migrationsbewegung gemeinsam mit ihren Akteuren nun zu einer Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung zu machen? Längst haben an der Basis der Nachbarschaften und des Alltags Verschiebungen begonnen, finden Auseinandersetzungen zwischen neu mit uns Lebenden und schon länger hier Ansässigen über zukünftiges Zusammenleben statt. Auch wir müssen dabei vieles hinterfragen, was uns bis vor kurzem noch sonnenklar zu sein schien: Die dazu geführten Diskussionen gehörten im letzten Jahr zu den spannendsten politischen Erfahrungen, die wir machen durften.
Flucht und Migration bedeuten auch immer eine Intensivierung von Klassenkonflikten – alleine deshalb, weil viele der Geflüchteten mit der Tatsache konfrontiert sind, ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Positionen vor der Flucht nach ihrer Ankunft einer gemeinsamen subalternen Klasse anzugehören: Der Klasse der «Flüchtlinge». In der werden sie in Situationen der Konkurrenz zur bestehenden mittellosen Klasse getrieben. In diesen Prozess zu intervenieren, der euphemistisch «Integration» genannt wird, wird zu unseren wichtigsten Aufgaben gehören. Die hierhin Geflüchteten dürfen dafür nicht als etwas außerhalb unserer Strukturen Befindliches und «zu Schützendes» betrachtet werden, sondern als Teil von uns.
w2wtal hat auf dieser Basis versucht, Teil der «wilden Entwicklungen» zu sein. Ursprünglich einmal als Initiative gegründet, die mit konkret-solidarischen Aktivitäten vor allem illegalisiert in Wuppertal Lebende unterstützen wollte, wurden auch wir zunehmend zum Akteur der dynamischen Entwicklung des Jahres – zu unserer Freude gemeinsam mit mehreren «Neu-Wuppertaler*innen». Dafür möchten wir all jenen, die diese Dynamik auch nach Wuppertal brachten, danken. Unser Ziel ist währenddessen das gleiche geblieben: Immer noch wollen wir Menschen, die neu mit uns in der Stadt leben, ungeachtet ihres jeweiligen Aufenthaltsstatus und jenseits paternalistischer Fürsorge darin unterstützen, selbstbewusst eigene Positionen zu beziehen: Menschlich, kulturell und vor allem politisch.
In diesem Sinne freuen wir uns schon auf das nächste Jahr – ohne die Gefahren und politischen Herausforderungen zu übersehen. Wir werden sie selbstbewusst und offensiv gemeinsam angehen.
«No border lasts forever» – Yallah!