Kompass-Newsletter zum Jahresende

Anstelle eines eigenen Jahresrückblicks aus migrationspolitischer Sicht möchten wir an dieser Stelle den Kompass-Newsletter für Dezember 2014 übernehmen. Dem Inhalt ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Auf ein kämpferisches und solidarisches 2015!

Liebe Freundinnen und Freunde!

Wäre unser Newsletter wie gewohnt Anfang des Monats erschienen, hätten wir die vielfältigen Aktionen der letzten Tage zwar noch knapp ankündigen, aber kaum mehr mobilisieren können. Deshalb haben wir kurzerhand entschieden, ausnahmsweise ein paar Tage später herauszukommen und einen erweiterten Rückblick vorzunehmen: auf die letzten Wochen und auf die vergangenen Monate. Zum Jahresende bietet sich der Versuch einer Bilanzierung und Einschätzung an, auch um damit Herausforderungen und mögliche Perspektiven für 2015 zu skizzieren. Entsprechend fällt unsere Einleitung dieses Mal etwas ausführlicher aus, zumal wir noch ein paar Zeilen in eigener Sache anhängen wollen.

Doch der Reihe nach:

Kaum ein Tag ohne Protest und Widerstand gegen das herrschende Grenzregime: Die letzten Wochen sind erneut von einer beeindruckenden Kette antirassistischer Aktivitäten geprägt, und nicht selten sorgen sie für massenmediale Schlagzeilen. Die Spannbreite reicht von der Künstleraktion des ersten Europäischen Mauerfalls in Berlin bis zum Hungerstreik der Non-Citizens in München, von der Demo gegen die IMK in Köln bis zum ausdauernden Protestcamp der sudanesischen Geflüchteten in Hannover, von der kurzfristig gestarteten Kampagne gegen die Verschärfung der Asylgesetze bis zu den erfolgreichen Kirchenasylen bei Lampedusa in Hanau. Symbolischer Protest und alltäglicher Widerstand attackieren auf unterschiedlichen Ebenen die herrschende Flüchtlings- und Migrationspolitik, nicht nur in Germany. Ein internationales Treffen von Sans Papieres und MigrantInnen in Rom, Hungerstreiks in Griechenland und einen Zwischenbericht des transnationalen Projektes des Alarmphones haben wir beispielhaft in die lange Liste der Kurzberichte und Links unten aufgenommen.

Es war ein sehr bewegtes und bewegendes Jahr. Die zahlreichen Aktivitäten im November und Dezember spiegeln wieder, was das gesamte Jahr 2014 geprägt hat: die inneren wie äußeren Grenzen der EU sind umkämpfter denn je, die sozialen und politischen Kämpfe der Migrationsbewegungen haben sich enorm verdichtet. Eine Bilanzierung muss gleichwohl widersprüchlich ausfallen, das Gesamtbild ist mehr als komplex.

Einerseits haben es weitaus mehr Refugees and Migrants nach Europa geschafft als in den Vorjahren, aller Frontex-koordinierten Hochrüstung zum Trotz. Zumindest in Deutschland haben sich die Selbstorganisierungsprozesse der Geflüchteten vielerorts weiter entwickelt, und die Unterstützung ist gewachsen, von radikalen AktivistInnen bis hin zu bürgerlichen HelferInnenkreisen. Es gibt spürbare Erfolge: Zahllose Dublin-Abschiebungen wurden gestoppt, per Gerichtsentscheidungen, mit Kirchenasylen, durch Blockaden und Proteste oder noch last minute im Flugzeug. Und der vielleicht eindeutigste Beleg: nur noch ca. 30 Asylsuchende saßen Mitte November deutschlandweit in Abschiebehaft. Früher waren es Tausende, noch nie war die Zahl so gering und die Waffe der Abschreckungs- und Erpressungshaft so stumpf wie heute.

Dazu beigetragen hat die gewachsene kritische Öffentlichkeit, seit Oktober 2013 wird die herrschende Flüchtlingspolitik selbst in Massenmedien immer wieder grundlegend in Frage gestellt. Aktuellste Beispiele: Selbst die Kriminalisierung der Fluchthilfe wurde in einem außergewöhnlichen Panorama-Bericht kritisiert, und „Die Anstalt“ brach nach einer brillanten Vorführung der tödlichen Frontex-Abschottung am Ende der Sendung gar mit dem Format des Kabarett und ließ einen syrischen Flüchtlingschor singen.

Andererseits: Die brutale staatliche Gewalt an den Außengrenzen, insbesondere in der Ägäis und an den Zäunen von Ceuta und Melilla, ist mitnichten gebremst, die Zahl der Toten im zentralen Mittelmeer ist so hoch wie nie zuvor. In Deutschland schüren die Herschenden mit der Ausweitung der „sicheren Herkunftsländer“ auf die Balkanstaaten und dem staatlichen Diskurs der Armutsmigration die Spaltung zwischen berechtigten „guten“ und unberechtigten „schlechten“ Flüchtlingen. Und der aktuelle Kabinettsbeschluss der großen Koalition zielt auf die Ausweitung der Abschiebehaft und auf strikte Wiedereinreisesperren, um die Abschreckung erneut hochzufahren. Dazu kommt die wachsende Mobilisierung von rechts. Die Wahlerfolge der AfD stehen für den verbreiteten Sarrazynismus, und mit Hogesa („Hooligans gegen  Salafisten“) und Pegida („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) traut sich der Mob wieder auf die Straße.

Die gesellschaftliche Polarisierung ist seit Monaten immer massiver zu spüren: während weitaus mehr Menschen ihr abstraktes Mitgefühl in konkrete Unterstützung zu verwandeln suchen, formiert sich von rechts eine Mischung aus Xenophobie und dem Hass auf das Andere. Diese Polarisierung erscheint als Herausforderung und Chance zugleich: denn das notwendige Zurückdrängen der rassistischen Montagsdemos bliebe reaktiv und defensiv, sofern nicht gleichzeitig das oben erwähnte, geplante repressive Gesetzespaket in den nächsten Wochen in die Zange genommen und – wenn nicht verhindert – so doch zumindest entschärft wird.

Die kritische Öffentlichkeit wäre gegeben, die potentielle Stärke der Bewegung ebenfalls. Doch das aktivistische AntiRa-Spektrum scheint zu gemeinsamer Koordinierung oder gar Fokussierung bislang nicht in der Lage. Entsprechende Bemühungen, sei es bei Noborder last forever in Frankfurt im Februar, beim Marsch nach Brüssel im Juni oder beim 20. Geburtstag von Voice in Jena im Oktober, fruchteten (noch) nicht. Wie die Vielfalt in effektivere Durchsetzungsstrategien zu übersetzen wäre, bleibt insofern eine der zentralen Herausforderungen für 2015.

Die zweite liegt in der Verknüpfung und Verbreiterung in und mit weiteren sozialen und gesellschaftlichen Fragen. Auch hier gibt es gute Ansätze. Ob von afrique-europe-interact zur Frage des Landraubs, ob in aktuellen Solidaritätsdemos zu Rojava oder ob zu Krise, prekärer Arbeit und sozialem Streik mit Blockupy – es gibt zahlreiche Verbindungslinien, die gegenseitig zu (ver)stärken wären, um in und mit den Kämpfen für Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte eine übergreifende emanzipatorischen Perspektive weiter zu entwickeln.

* Schließlich noch ein paar Sätze in eigener Sache: Unser Newsletter erscheint jetzt bald drei Jahre immer zum Monatsanfang und seit einigen Ausgaben auch jeweils in englisch und französisch. Die Übersetzungen hinken meistens ein paar Tage nach, aber Dreisprachigkeit halten wir für eine Voraussetzung, dass sich potentiell auch Refugees und Migrants an diesem Austausch- und Überblicksprojekt stärker beteiligen. Doch die Frage der breiteren Beteiligung stellt sich nach wie vor grundsätzlicher. Wir erhalten zwar einigen Zuspruch und viele halten den Ansatz eines regelmäßigen, spektren-übergreifenden Newsletters für gut und wichtig.

Doch bislang sind wir als Produktionsteam im engen Kreis geblieben, und den Berichten oder Ankündigungen müssen wir meistens hinterherlaufen. Stattdessen benötigen wir Aktive aus allen Spektren, die uns selbstständig kurze Texte und Hinweise zuschicken, die sich an den Übersetzungen beteiligen oder beim Layout mitwirken. Es wäre uns das liebste Geschenk zum dreijährigen Geburtstag im März, wenn sich ein paar mehr Leute finden würden, die das Kompass-Newsletter-Projekt kontinuierlich unterstützen.

mit besten Grüßen, die Kompass-Crew

Kompass Newsletter Nr. 34 (pdf)

 

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