Judith Welkmann zur Situation um Abschiebelager in NRW. 17.11.2018
In den 1960er Jahren prägte der kanadische Soziologe Erwing Goffman den Begriff der „Totalen Institution“ und meinte damit Einrichtungen, die dazu geeignet sind, alle Lebensregungen einer Gruppe von Menschen zu regulieren und zu kontrollieren. Die totale Institution nimmt durch Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt einen allumfassenden, eben „totalen“ Charakter an. Lager sind der Prototyp einer solchen „Totalen Institution“ – neben Psychiatrien, Internaten, Kasernen etc. Nun gibt es bekanntlich höchst unterschiedliche Typen von „Lagern“; gemeinsam ist ihnen allen neben der schlichten Unterbringung und Behausung in abgestuftem Maße auch immer Isolierung, Aus- bzw. Eingrenzung und administrative Kontrolle von Menschenmengen; in gewisser Weise damit auch das Außerhalb-des-Rechts-Stellens seiner Insass_innen. Im diesem Zusammenhang beschreibt der Philosoph Giorgio Agamben die Installation von Lagern als den Raum, „[…] der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt.“
Für Asylsuchende in Deutschland ist dieser „Ausnahmezustand“, die Unterbringung im Lager, in den ersten Wochen des Aufenthalts seit 1982 gesetzlich vorgeschrieben. Die gesetzlichen Bestimmungen und die regulierenden Nebenbestimmungen, welche die räumliche Ausgrenzung und Einschränkung perfektionieren – wie etwa Residenzpflicht, Meldeauflagen, Beschäftigungsverbote, Sachleistungsprinzip – wurden im Laufe der Jahrzehnte mal verschärft, mal gelockert. Die Bundesländer und die Kommunen gehen mit der Umsetzung der Bundesgesetze in der Praxis sehr unterschiedlich um.
In den Jahren vor 2015 gab es auf verschiedenen Ebenen zahlreiche Lockerungen: So war die verpflichtende Aufenthaltsdauer im (Landes-)Aufnahmelager bis 2015 auf maximal drei Monate beschränkt; viele Kommunen ermöglichten zudem dezentrale Unterbringung in Mietwohnungen. Es gab Lockerungen – wenn auch nie eine Abschaffung – der Residenzpflicht sowie bessere Zugänge zum Arbeitsmarkt und zu Sprachkursen. Es ist allerdings auffällig, dass die meisten Lockerungen vor allem darauf abzielten, Flüchtlinge besser in Arbeit zu integrieren. Sie wurden auch offiziell damit begründet, dass Arbeitgeber und ihre Verbände (IHK, BdA) auf diese Lockerungen gedrängt hatten. Die Änderungen waren sicherlich auch den Kämpfen der Geflüchteten und ihrer Unterstützer_innen zuzuschreiben; doch fielen hier Verwertungsinteressen auf der Seite des Kapitals und Teilhabeinteressen auf der Seite der subalternen Arbeiter_innen zusammen.
Nun bietet eine Arbeitsstelle oder ein Ausbildungsvertrag noch längst keinen gesicherten Aufenthalt, und die aktuelle Debatte um den „Spurwechsel“ lässt auch wenig Hoffnung aufkeimen, dass ein mögliches Zuwanderungsgesetz daran zukünftig etwas ändern könnte. Und deshalb war auch das Resultat der „Lockerung“ zum Zwecke der „Integration“ extrem ambivalent: Auf einmal gab es zahllose Menschen mit prekärem Aufenthalt auf der einen und einem stabilen sozialen (und beruflichen) Umfeld auf der anderen Seite. Was auch dazu führte, dass Abschiebeversuche nicht selten mit Protesten und einem Aufschrei der Stadtgesellschaft, bei Freunden, Lehrerinnen oder Arbeitgeberinnen einhergingen. Dies wiederum verleitete Andreas Scheuer, CSU, 2016 zu seinem verzweifelten Ausruf: „Das Schlimmste ist ein fußballspielender ministrierender Senegalese. Der ist drei Jahre in Deutschland – als Wirtschaftsflüchtling – den kriegen wir nie wieder los.“ Und Frau Merkel sekundierte ihm in einer Pressekonferenz der Bundesregierung und hatte direkt auch schon die Lösung in der Tasche: „Wir arbeiten daran, dass Rückführungen möglichst aus den Erstaufnahmeeinrichtungen erfolgen können; denn wir wissen: Wenn Menschen erst einmal durch ehrenamtliche Helfer in Kommunen integriert sind, dann ist die Rückführung sehr viel schwerer und schwieriger.“
Hinzu kam, dass die Kommunen und ihre Verbände seit 2015 nach finanzieller Entlastung schrieen und verlangten, dass nur „Bleibeberechtigte“ mit positivem Asylbescheid in die Kommunen zugewiesen werden. Alle anderen sollten überhaupt nicht erst in der Stadtgesellschaft ankommen, sondern aus dem Lager heraus abgeschoben werden. Nur dann könne man alle Ressourcen auf die Integration der Bleibeberechtigten konzentrieren, so das Argument des Städte- und Gemeindebundes. Damit war das Narrativ, dass „konsequente Abschiebung“ und „Integration“ nur die zwei Seiten derselben Medaille seien, perfekt.
Und genau hier hat die Politik seit Ende 2015 eingehakt: Der Auf- und Ausbau einer Integrations-Verhinderungs-Maschinerie und die Wiederdurchsetzung des „Prinzips Lager“ wurden seit dem Sommer der Migration 2015 systematisch vorangetrieben; das (Abschiebe-)Lagersystem wird neu ausgebaut.
Die Debatte um AnKer-Zentren haben alle mitbekommen. Die Tatsache hingegen, dass Bundesländer wie NRW in modifizierter Form solche Lager schon längst betreiben, wird kaum diskutiert. Konkret hat die NRW-Landesregierung seit 2015 sog. „Schwerpunktzentren“ (oder §30a – Einrichtungen) eingerichtet, die vor allem für Menschen „mit geringer Bleibeperspektive“ vorgesehen sind und in denen Asyl-Schnellverfahren durchgeführt werden. Wobei der Verbleib derer, die solchen „Schnellverfahren“ unterzogen werden, bis zu zwei Jahre dauern kann. Es wird also schon vor einer inhaltlichen Prüfung der Asylgründe als „Regelvermutung“ angenommen, dass keine Schutzgründe vorgetragen werden, die eine positive Entscheidung rechtfertigen können. Dies trifft Personen aus den Ländern, die auf der Liste der „sicheren Herkunftsländer“ stehen, ebenso wie – sehr willkürlich – Leute aus Georgien und Aserbaidjan, und künftig wohl auch aus den Magreb-Ländern. Darüber hinaus werden Asylsuchende, für deren Verfahren ein anderer Dublin-Vertragsstaat zuständig ist (sog. Dublin-Verfahren), direkt aus diesen Lagern abgeschoben.
Im Oktober 2018 gab es diese Schwerpunktlager in fast allen Regionen Nordrhein-Westfalens; z.T. eher abgelegen wie die Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) Ibbenbüren, Möhnesee oder Büren in Westfalen. Andere Lager sind in Oerlinghausen, Willich, Bonn Bad Godesberg und seit Mai 2018 auch in Ratingen bei Düsseldorf. Zwischenzeitlich wurden weitere Standorte als Dublin-Abschiebelager genutzt. Der Zugang für „Ehrenamtliche“ und Menschen von außen ist dort extrem unterschiedlich – einige Lager kann man problemlos und ohne große Bürokratie betreten; es gibt Angebote und Deutschkurse und eine gewisse Kontrolle durch Zivilgesellschaft. In anderen Lagern ist der Zugang beschränkt auf Personen, die Funktionen übernehmen, und ein Zugang ist nur mit entsprechendem Aufwand, Begründungen und persönlichen oder beruflichen Kontakten möglich. Andere Lager, wie etwa Ibbenbüren, sind komplett abgeschottet, und nicht einmal Funktionsträger wie FlüchtlingsberaterInnen oder andere Fachkräfte und Seelsorger bekommen Zugang.
Auch in diesen Lagern ist es aber möglich, mit BewohnerInnen in Kontakt zu kommen, wenn diese das Lager verlassen – und sie z.B. zu einem Treffen oder einer Aktivität außerhalb des Lagers einzuladen. Das das nicht längst massenhaft geschieht, ist mit Sicherheit auch eine Folge der Überarbeitung antirassistischer politischer Strukturen – aber dennoch nicht wirklich zu rechtfertigen.
Des Bedrückende am Ausbau des NRW-Lagersystem ist zweierlei: Erstens müssen wir einsehen, dass das – durchaus gut gemeinte – Insistieren auf ein Bleiberecht für die „gut Integrierten“ auf der politischen Gegenseite mit Erfolg als Argument für eine weitere Isolierung und Lagerhaltung derjenigen, die (noch) kein Bleiberecht haben, genutzt und gegen uns gewendet wird.
Zweitens müssen wir erkennen, dass die Strategie der Isolierung in Lagern zumindest für NRW ganz hervorragend funktioniert hat: Kaum jemand hier – weder aus dem aktionistisch antirassistischen Spektrum, aus Flüchtlings-Unterstützungsinitiativen oder aus selbstorganisierten Flüchtlingsgruppen in den Städten – diskutiert derzeit intensiv über die Lager, geschweige denn arbeitet kontinuierlich daran, die Lager zu schießen und die Isolierung der BewohnerInnen zu durchbrechen. Am umtriebigsten sind hier wohl derzeit noch die Kirchen, die meist auch die Beratungsarbeit in diesen Einrichtungen abdecken.
Genau zur Zeit der hoher Flüchtlingszugänge in 2015 sagte Präses Annette Kurschus von der Westfälischen Landeskirche im Bericht zur Synode 2015 folgende grundlegend kritischen Sätze: „Wenn also etwas an der gegenwärtigen Situation überraschend und unvorhersehbar ist, dann ist es das Ereignis des Zerbrechens einer gut gehegten und gerne geglaubten Illusion. Ich meine die Illusion, wir könnten in einer globalisierten Moderne den Realitäten von Gewalt und Ungleichheit und blanker Todesnot gewissermaßen die Einreise verweigern, wenn wir nur vertraglich, politisch, polizeilich und moralisch geschickt agierten. Und die Illusion, wir hätten dazu womöglich sogar das Recht.“
Die Politik der Abschottung und Einreiseverweigerung hat sich wieder durchgesetzt. Und sie findet nicht nur an den Außengrenzen der EU statt, sondern weitgehend unbemerkt auch in unseren Kreisen und Kommunen. Für die Leute, die in diesem System von innen gefangen sind, ist es mehr als schwierig, dies allein und von sich aus zu tun. Wir sind also gefordert. Es kann zunächst nur darum gehen, die Isolation zu durchbrechen, die eigenen Räume und Strukturen zu öffnen für Leute, die von Abschiebung betroffen sind. Ihnen zuzuhören und ihre Wünsche und Probleme kennenzulernen. Es braucht also nicht mehr als einen Ort und etwas Zeit, im besten Fall Sprachkenntnisse und ein paar Menschen, die einf ach bereit sind, diesen ersten Schritt zu machen.
„Break Isolation“ – „durchbrecht die Isolierung“ ist seit den 2000er Jahren ein wichtiger Slogan der Flüchtlingsbewegung. Er wendet sich an Geflüchtete als Appell zur Selbstorganisation und zum Widerstand, ist aber auch ein Aufruf an die „Gesellschaft der Vielen“, an die Stadtgesellschaft, an soziale Zentren und solidarische Strukturen: Lasst es nicht zu, dass ganze Gruppen von Menschen als „nicht dazugehörig“ definiert und in Wäldern und Industriegebieten isoliert werden! Nehmt das Prinzip „aus den Auge, aus dem Sinn“ nicht hin, wenn es um fundamentale Menschenrechte geht, die mit Füßen getreten werden! Sucht diejenigen auf, die man vor euch abschotten will; sprecht mit denen, deren Stimme ihr nicht hören sollt!
Die Gesellschaft der Vielen lässt sich nicht wegsperren, und unsere Solidarität endet nicht an Maschendrahtzäunen. Wenn wir uns kennenlernen und miteinander sprechen wollen, werden sie es nicht verhindern können. Wir müssen nur wollen.